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Siv Westerberg:

Pflegschaft der Abkassierer

Veröffentlicht in
Die Zeit, Hamburg, 14. juli 1995
(Abteilung "Modernes Leben")
(Zeit Online: Pflegschaft der Abkassierer)


Mit sechzehn Jahren kam Heinz Stombrowski, geboren im ostpreussischen Simken, 1951 als Waldarbeiter nach Schweden. Später gründete er mit einer Schwedin eine Familie, wurde Besitzer eines kleinen Nebenwerbshofs in Värmland. Zwar war das Haus klein, bot als einzige moderne Einrichtung fliessend kaltes Wasser, aber für die vier Kinder war es eine wunderbare Umgebung, das reinste Astrid-Lindgren-Idyll.

Es währte nich lange. Als Heinz Stombrowski durch Konkurs seines Arbeitgebers vorübergehend arbeitslos wurde und Sozialhilfe beantragen musste, lenkte er die Aufmerksamkeit der Sozialbehörde auf sich. Die hatte einiges zu bemängeln: dass die Kinder, die im Stall und auf dem Feld herumtobten, schmutzig seien; dass die Bettwäsche nicht häufig genug gewechselt werde; dass die Sprachentwicklung der Kinder - wie ja in binationalen Ehen, ob Bauern oder Akademiker, durchaus nicht ungewöhnlich – verspätet sei.

Die Sozialbehörde nahm die Mängel zum Anlass, den Eltern die Kinder zu entziehen und auf Pflegefamilien zu verteilen. Nur die älteste Tochter, damals sechzehn Jahre alt, kam nicht in Zwangspflege. Sie ist under den Stombrowski-Kindern heute die einzige, die ein normales Leben führt. Die drei jüngeren Kinder, bei der Zwangsfortnahme zehn, sechs und drei Jahre alt, sind zehn Jahre später immer noch bei Pflegeeltern. Alle drei haben nur Sonderschulen besucht oder besuchen sie noch, und die Pflegeeltern haben wenig Anlass, diesen Zustand zu ändern: Je schwerer "behindert" ein Kind zu sein scheint, desto höher ist der Pflegesatz.

Eine der Töchter wurde als Dreizehnjährige von ihrem Pflegevater zum Geschlechtsverkehr gezwungen, ohne dass sich der Mann vor einem Gericht dafür hätte verantworten müssen. Der jetzt dreizehnjährige Sohn hat mehrmals Selbstmordabsichten geäussert; er war zwei Jahre bei einem geschäftstüchtigen Pflegeelternpaar untergebracht, das sieben schwer gestörte Jungen gleichzeitig in Pflege genommen hatte, ohne irgendeine Ausbildung für diese Aufgabe zu haben. Von der Sozialbehörde kassierten sie Pflegegeld in Höhe von 1500 Kronen, umgerechnet 300 Mark pro Tag und Kind.

Man fragt sich: Kann dies, im Wohlfahrtsstaat Schweden, geschehen sein und geschehen? Als Anwältin der Familie Stombrowski in den letzten beiden Jahren muss ich es bestätigen. Schlimmer noch: Der Fall Stombrowski ist kein Einzelfall. Ehe ich Anwaltin wurde, habe ich zwanzig Jahre als Ärztin gearbeitet. Deshalb habe ich in meiner Anwaltskanzlei in Göteborg viele Fälle sozialmedizinischen Charakters, darunter eine Reihe von Fällen, in denen die Sozialbehörden, wie im Fall Stombrowski, Eltern aus nichtigen Gründen ihre Kinder weggenommen und bei meist miserablen Pflegeeltern untergebracht haben.

Zur Zeit sind in Schweden schätzungsweise 5000 Kinder ihren Eltern zwangsweise entzogen. Bei höchstens zehn Prozent der Kinder gibt es auf Anhieb einleuchtende Gründe dafür, wie zum Beispiel Alkohol- oder Drogenabhängigkeit der Eltern. In den anderen Fällen werden schnell Gründe gesucht und gefunden, wenn die Eltern erst einmal in Konflikt mit dem zuständigen Sozialarbeider geraten sind.

Zu allen Zeiten wurden Kinder bei Pflegeeltern untergebracht. Noch in den dreissiger und vierziger Jahren geschah dies oft, weil die leiblichen Eltern einfach zu arm waren, ihre Kinder selbst zu ernähren. Viele uneheliche Kinder wurden zu Pflegeeltern gegeben, weil es grosse Vorurteile gegenüber unverheirateten Müttern gab. Damals waren Pflegeeltern meistens Leute, die einem Kind in Not Gutes tun wollten, die gezahlten Pflegegelder waren äusserst niedrig.

In den fünfziger Jahren änderte sich die Situation. Der allgemeine Lebensstandard besserte sich sehr, die Vorurteile gegenüber unverheirateten Müttern schwanden. Die Notwendigkeit, Kinder Pflegeeltern anzuvertrauen, war nich mehr im selben Masse gegeben. Mit der Folge, dass nun mancher Sozialarbeiter um seinen Arbeitsplatz fürchten musste. Da traf es sich günstig, dass an Schreibtischen Visionen eines schwedischen Staates entstanden, der seine Bürger von der Wiege bis zur Bahre betreut, und ein starker Familienzusammenhalt schien da eher hinderlich. Es wurde ein Gesetz durchgebracht, das den Sozialämtern die Möglichkeit gab und noch gibt, gegebenenfalls sogar mit Hilfe der Polizei in nahezu jede Familie einzubrechen.

Es wurde zugleich auch ein Gezetz über ein Umzugsverbot durchgesetzt, was bedeutet: Selbst wenn es Eltern nach jahrelangen Gerichtsprozessen gelungen sein sollte, die Zwangspflege ihrer Kinder aufgehoben zu bekommen, können die Sozialbehörden ein Umzogsverbot für die Kinder erlassen. Die Absicht dahinter ist theoretisch eine gute: Einem Kind wird nach jahrelangem Aufenthalt bei Pflegeeltern ein paar Monate Zeit gegeben, sich schrittweise an seine leiblichen Eltern zu gewöhnen. In der Praxis aber nutzen die Sozialämter das Gesetz mit entgegengesetzten Absichten. Sie erlassen Umzugsverbote oft für Jahre und sabotieren so jeglichen Kontakt zwischen Eltern und Kindern.

Eine gerichtliche Kontrolle gibt es praktisch nicht. Denn die Zwangspflegefälle fallen in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte, welche in Schweden so schwerfällig und bürokratisch arbeiten, dass sie zu reinen Vollstreckungsorganen für die Sozialämter geworden sind. Aug diewe Weise wurde der Sozialarbeiterberuf attraktiv für Menschen mit Machtgelüsten, Menschen, die es ganz einfach geniessen, wenn sie bei der kleinsten Abweichung von staatlich festgelegten Erziehungsnormen die Kinder den Eltern wegnehmen, zum Beispiel, weil die Wohnung unaufgeräumt ist oder weil das Kind die Schule geschwänzt hat.

Um eine ausreichend grosse Zahl von Pflegeeltern zu bekommen, wird mit enorm hohen Pflegegeldern gelockt. Für ein gesundes Kind erhalten Pflegeeltern 5000 bis 10 000 Kronen, also 1000 bis 2000 Mark im Monat, zu einem grossen Teil steuerfrei, und es ist nicht ungewöhnlich, dass Pflegeeltern gleichzeitig vier oder fünf Pflegekinder nehmen. Für ein behindertes Kind können die Pflegegelder sich um ein Vielfaches erhöhen.

Wo soviel Geld lockt, melden sich viele. Dass manche unter ihnen Vorstrafen oder Alkoholprobleme haben oder hatten, hindert die Sozialbehörden keineswegs daran, sie zu Pflegeeltern zu machen. Zum Unterschied von leiblichen Eltern werden Pflegeeltern von den Sozialämtern seltsamerweise kaum kontrolliert.

Das System könnte nicht funktionieren, wenn die Kinder regelmässig Kontakt zu ihren leiblichen Eltern hätten. Deshalb ist das Besuchsrecht der Eltern stark beschränkt. Meistens dürfen sie ihre Kinder nur alle drei Monate für ein paar Stunden unter Überwachung der Pflegeeltern treffen. Die Sozialbehörden können auch eine Kontaktsperre für die leiblichen Eltern verhängen, oft unterstützt durch Gutachten von Kinderpsychiatern, die solche Gefälligkeitsgutachten gern ausstellen, weil die Sozialbehörden nahezu ihre einzigen Auftraggeber sind.

Diese unheilige Allianz zwischen machtbewussten Sozialarbeitern, geldgierigen Pflegeeltern und von den Sozialbehörden abhängen Kinderpsychiatern hat unendliches Leid über viele Familien in Schweden gebracht. Eine Reihe dieser Fälle habe ich vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gebracht, so auch den Fall Stombrowski. Schweden ist dort mehrmals wegen Verletzung der Menschenrechte im Zusammenhang mit Zwangsfortnahmen von Kindern verurteilt worden. Die schwedischen Behörden haben keine Lehren daraus gezogen, zum Teil sind sie nicht einmal den vom Gerichtshof gefällten Entscheidungen gefolgt. Schweden hat bis heute kein Verfassungsgericht, bei dem solche Gesetze und Zustände angeklagt und überprüft werden könnten.


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